«Liebes Mami, lieber Papi, zählt doch bis zehn!»

Lancierung einer schweizweiten Sensibilisierungskampagne zum Thema Erziehung.
Donnerstag, 18. Oktober 2018
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Nicht immer will der Nachwuchs so, wie man selber, es wird getrotzt, diskutiert und manchmal geschrien – oder mehr. Psychisch und physisch verletzende Bestrafungen als Erziehungsmittel sind in vielen Schweizer Familien Alltagsrealität und gehören für viele leider immer noch zur Erziehung. Ziel von «Ideen von starken Kindern für starke Eltern»ist es, die öffentliche Diskussion zum Thema anzustossen und zum Umdenken und Handeln anzuregen. Die Kampagne basiert auf der neusten Studie der Universität Fribourg zum Bestrafungsverhalten von Eltern in der Schweiz und den Grundsätzen der anleitenden Erziehung.

In der kurzen Filmdokumentation zur Kampagne erzählen Kinder aus der Schweiz, wie ihre Eltern reagieren, wenn sie nicht gehorchen oder etwas angestellt haben. Es wird schnell klar, dass auch heute noch viele Eltern in stressigen Situationen regelmässig auf schmerzhafte oder erniedrigende Bestrafungen als Erziehungsmittel zurückgreifen. Der Film macht deutlich spürbar, wie sehr Kinder unter diesen Massnahmen und der damit verbunden Gewalt leiden.

Handlungsalternativen für Eltern

Durch den Perspektivenwechsel schafft die Sensibilisierungskampagne Raum. Raum für Selbsterkenntnis und Ideen. Mamis und Papis werden sich in den Schilderungen der Kinder wiedererkennen. Denn hier geht es um ganz alltägliche Stresssituationen im Umgang mit dem Nachwuchs, die sie an ihre Grenzen bringen. Doch wie kann man sich in solchen Situationen besser verhalten? «Wie kann ich als Mami oder Papi dafür sorgen, dass ich nicht die Kontrolle über mich verliere und mir nicht die Worte oder die Handentgleiten?», fragen sich viele. Auch dazu hat Kinderschutz Schweiz die Kinder befragt. So einfach sich die «Ideenvon starken Kindern für starke Eltern – Es gibt immer eine Alternative zur Gewalt»auf den ersten Blick anhören, genauso wirkungsvoll sind sie: «Liebes Mami, zähl doch bis zehn» oder «Lieber Papi, iss einfach ein Stück Schokolade» sind kreative Handlungsalternativen aus der Perspektive der Kinder, die den Eltern aufzeigen, dass ein kurzes Innehalten hilft, um anschliessend überlegt und ruhig zu reagieren. Ziel ist ein gesellschaftlicher Perspektivenwechsel, der das Bewusstsein für das Empfinden des Kindes sowie für das eigene schärft und Erziehungsberechtigten in schwierigen Situationen hilft, sich selbst zu entlasten.

«Die Sensibilisierungskampagne soll die aktuell in der Schweiz vorherrschende soziale Norm von ‹Es muss halt manchmal sein› ansprechen, ohne sie zu verurteilen oder zu kriminalisieren. Die meisten Erwachsenen fühlen sich, nachdem sie ihr Kind bestraft haben, alles andere als entspannt und glücklich. Doch sie kennen keine anderen Mittel. Genau in diese Lücke zielt die Kampagne. Es ist Zeit für einen nachhaltigen Wertewandel durch das Aufzeigen der Vorteile einer gewaltfreien Erziehung», so Xenia Schlegel, Geschäftsführerin der Stiftung Kinderschutz Schweiz.

Ergebnisse in der Schweiz erschrecken

In der repräsentativen Studie der Universität Fribourg wurden Eltern in der Schweiz zu ihren Erziehungsmethoden befragt. Neben sehr häufig vorkommenden Massnahmen wie «Schimpfen» oder «Verbot elektronischer Medien» wurden auch Erziehungsmittel abgefragt, die von den Wissenschaftlern unter Gewalt kategorisiert werden. Physische Gewalt(z.B. Haareziehen, Ohrfeigen, Schläge auf den Po, kaltes Abduschen) wird von 44,4% der befragten Eltern angewendet. Die Häufigkeit und die Form variieren stark: Jeder 20. Elternteil (5,79%) wendet körperliche Gewalt häufig an, jede 3. befragte Person in selteneren Fällen. Von den über 1,2 Millionen Schweizer Kindern (1–15 Jahre) haben somit mehr als 550 000 schon körperliche Strafen erleben müssen.

Psychische Gewalt(z.B. Einsperren, Drohen, Liebesentzug, Ignorieren, Anschreien) wird weitaus häufiger als Erziehungsmassnahme angewendet: 68,6% der befragten Eltern haben schon darauf zurückgegriffen, wobei 25,15% angeben, ihre Kinder regelmässig bis sehr häufig psychisch zu strafen. Man muss deshalb davon ausgehen, dass 310 000 Schweizer Kinder regelmässig durch psychische Gewalt erzogen werden.

Die Experten sind sich einig, dass sowohl bei psychischer als auch bei physischer Gewalt die Dunkelziffern in der Schweiz weitaus höher sind. Alle Formen von Gewalt in der Erziehung haben weitreichende negative Auswirkungen und beeinträchtigen die körperliche und seelische Gesundheit sowie die Entwicklung der betroffenen Kinder. Kurzfristig mögen Bestrafungen zwar funktionieren, doch langfristig richten sie grossen Schaden an, darin ist sich die Wissenschaft einig. Denn allen Formen von Gewalt in der Erziehung ist gemein, dass sie die Grenzen des Kindes verletzen und das Kind so lernt, keine Grenzen haben zu dürfen. In der Folge können Kinder auch kein Gespür dafür entwickeln, was Grenzen überhaupt sind – weder bei sich selbst noch bei anderen.

Im Alltag mit Kindern braucht es viel Rückgrat und Haltung. Erziehen ohne Strafen bedeutet nicht, dass Kinder sich selbst überlassen werden oder alles dürfen. Starke Kinder brauchen starke Eltern. Eltern, die bereit sind, dem Kind liebevoll und seiner Entwicklung entsprechend Grenzen zu setzen.

Medienanfragen

Tamara Parham
Bereichsleiterin Kommunikation und Partnerschaften
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